Kapitel IV
EDINBURGH, 1693
John Law war zweiundzwanzig Jahre alt, als er im Frühjahr mit einer Kutsche in Lauriston Castle vorfuhr. Er wusste gleich, dass er hier nicht lange bleiben würde. Sein erster Blick galt dem Turmzimmer. Der steinerne Sims war vom Taubendreck gereinigt, der früher alles überzogen hatte. John Law war erstaunt, wie sauber und gepflegt das ganze Anwesen war.
»Ich muss Ihnen ein Kompliment machen, Madam«, sagte John, als er sich im Salon aus der Umarmung seiner Mutter löste, »Lauriston Castle sieht prächtiger und schöner aus denn je.«
Jean Law lächelte wohlgefällig und wollte etwas entgegnen, als Janine in den Salon platzte. Sie war losgelaufen, um ihren kleinen John zur Begrüßung zu umarmen, aber der groß gewachsene, stattliche Mann, der da vor ihr stand, elegant gekleidet, charmant lächelnd, war nicht mehr der Junge, den sie einst zärtlich an ihren Busen gedrückt und liebkost hatte. Die Röte schoss ihr ins Gesicht. Plötzlich schämte sie sich der erotischen Lektionen, die sie dem kleinen John seinerzeit erteilt hatte. Mit gesenktem Kopf kam sie ein paar Schritte näher, verneigte sich kurz und sagte: »Willkommen auf Lauriston Castle ... Sir ...«
John Law nahm sie liebevoll in die Arme und küsste sie auf beide Augen. Jean Law wandte sich indigniert ab und begab sich demonstrativ an den Tisch. Dann kam William hereingeplatzt. Wild und ungestüm. John bemerkte gleich, dass Janine und er ein Verhältnis hatten. Er sah es in Williams Augen. Und er sah auch, dass die Gefühle von Rivalität und Neid, die bei seinem Abschied vor zehn Jahren zwischen ihnen geherrscht hatten, noch immer da waren.
»Mein kleiner Bruder William«, sagte John freundlich.
»Ich bin William Law«, antwortete der junge Mann trotzig. John ging einen Schritt auf ihn zu und wollte ihm die Hand reichen. Doch William wich ihm aus. Janine schlich sich diskret aus dem Zimmer. Ihre Domäne war die Küche und die Erotik, nicht die Diplomatie.
»Hast du immer noch nicht verdaut, dass du bloß den Vornamen meines Vaters geerbt hast?«
»Ich habe ein hervorragendes Gedächtnis«, gab William trotzig zurück und presste die Lippen aufeinander.
»Du meinst, du bist sehr nachtragend. Ich habe auch ein hervorragendes Gedächtnis, aber ich bin dennoch nicht nachtragend. Nicht weil ich großzügig bin. William, nicht aus Gründen der Vernunft. Es ist einfach so. Es ist nicht mein Verdienst. Was einmal war, ist vorbei. Deshalb biete ich dir meine Hand an, Bruderherz.«
William rührte sich nicht vom Fleck.
»Es gibt Leute, die sich aus nichtigeren Gründen duellieren und dabei sterben«, fügte John hinzu. »Du bist mein Bruder, William. Du lebst auf meinem Grund und Boden.«
»Die Hälfte, John, nur die Hälfte«, sagte Jean Law und forderte ihn mit einer Handbewegung auf, am Tisch Platz zu nehmen.
»Ich weiß, Madam, nur die Hälfte«, sagte John und setzte sich an den Tisch, »wahrscheinlich lebt William auf der anderen Hälfte.«
William verließ wortlos den Raum. Jean Law seufzte. Dann wandte sie sich an John.
»Hast du Pläne, John? Bei deiner Begabung solltest du an eine Universität.«
»Ich habe verschiedene Begabungen, Mutter«, lächelte John und hielt nach Janine Ausschau. Sie war drüben in der Küche und hantierte am Herd. »Ich war zehn Jahre in Eaglesham, Madam. So finster kann kein Verließ in Schottland sein. Jetzt werde ich mich ein bisschen amüsieren. Habe ich mir das nicht redlich verdient, Madam?«
Jean Law schlug resigniert die Augen nieder. Doch John ergriff ihre Hand und streichelte sie sanft: »Ich möchte doch lediglich herausfinden, welche meiner Fähigkeiten mir am meisten Spaß macht, Madam.«
Sein Blick war dabei so mild, so voller Liebe und Zuneigung, dass Madam nicht umhinkonnte, ihrem Sohn ein bewunderndes Lächeln zu schenken.
Vom ersten Tag seiner Rückkehr an war John Law ein gern gesehener Gast in den Salons der vornehmen Häuser von Edinburgh. Ein vorzüglicher Kartenmischer, ein begnadeter Schnellrechner und charmanter Causeur. Obwohl erst Anfang zwanzig, benahm er sich wie ein alter Fuchs, der alle Gepflogenheiten und gesellschaftlichen Verhaltensregeln in den vornehmen Kreisen spielend beherrschte. Die jungen Damen zeigten ihm ihre Zuneigung immer unverblümter, setzen ihre Mouches auf »Kapitulation« und winkten John Law ungeduldig mit ihren Fächern herbei.
Nur selten kam John vor den frühen Morgenstunden nach Lauriston Castle zurück, wenn er überhaupt nach Hause kam. Meist schlief er dort, wo er die letzte Karte ausgeteilt hatte. Seiner Mutter Jean war bald nur allzu klar, welche seiner Begabungen ihm am meisten Spaß bereitete und dass man diese Begabung an keiner Universität der Welt verfeinern konnte.
Und so kam es, dass John Law of Lauriston seinen ganzen Besitz verspielte, die Hälfte von Lauriston Castle, an einen französischen Mathematiker namens Antoine Arnauld, der in der Stadt Edinburgh fast gänzlich unbekannt war.
Es war in den frühen Morgenstunden dieses schicksalsträchtigen Tages, dass eine Kutsche John Law nach Lauriston Castle zurückbrachte. Da John nicht in der Lage war, aus der Kutsche zu steigen, half ihm der Kutscher. Der Boden war vom Regen der letzten Nacht aufgeweicht. Unter dem Gewicht des groß gewachsenen Mannes versank der Kutscher noch mehr im Morast und blieb darin stecken, während sich John bis zum Brunnentrog schleppte, auf die Knie sank und dann den Kopf ins Wasserbecken hielt.
Jean Law stand hinter dem Fenster ihres Arbeitszimmers und beobachtete die Szene.
»Es wäre besser, er würde wieder verschwinden«, sagte William, als er Madam liebevoll den Arm um die Schulter legte.
»Irgendwann wird er sich ausgetobt haben«, antwortete Jean Law.
»Wenn einen Fuchs die Tollwut packt, dann musst du ihn mit einem Knüppel zu Tode prügeln, damit er Ruhe gibt.«
»Ich will nicht, dass du in diesem Ton von deinem Bruder sprichst. William. Ich möchte, dass ihr endlich Frieden schließt.«
William grinste: »Waren nicht auch Kain und Abel Brüder?«
Jean Law fuhr herum. Unwirsch zeigte sie zur Tür: »Hinaus, William. Es reicht. Ich habe weiß Gott genug Sorgen.«
Nachdem William gegangen war, wartete Jean Law noch eine Weile unschlüssig. Schließlich machte sie sich auf, um John in seinem Zimmer aufzusuchen. Als sie in seinem Zimmer ankam, lag John bereits im Bett. Er war kreidebleich und hielt sich einen nassen Lappen auf die Stirn. Das Wasser lief seitlich die Schläfen hinunter und tropfte auf das Kopfkissen.
»John«, begann die Herrin über Lauriston Castle vorsichtig, »im Frühjahr sagtest du einmal, du hättest viele Fähigkeiten und würdest gern herausfinden, welche von diesen Fähigkeiten dir am meisten Freude bereitet. Weißt du es jetzt?«
John Law schaute seine Mutter mit schmerzhaft zusammengekniffenen Augen an. »Der Gin von Edinburgh bereitet mir jedenfalls keine Freude, Madam«, murmelte John und atmete schwer, als hätte ihn dieser Satz bereits erschöpft. »Der Gin schadet der Mathematik.Vielleicht wäre London etwas für mich.«
»London?«, fragte seine Mutter mit gemischten Gefühlen.
»Ja, Madam, London. Ich habe gelesen, dass im nächsten Jahr in London eine Bank gegründet wird. Von einem Landsmann. William Paterson. Ich würde ihn gern kennen lernen.«
»Eine Bank ...«, wiederholte Jean Law.
»Ja, Madam, eine Bank. Die Bank of England. Sie wird das Geld der Leute zur Aufbewahrung entgegennehmen, verzinsen und anderen Leuten ausleihen. Sie wird Geld wechseln, Darlehen vergeben ...«
»Du meinst, sie wird das tun, was dein verstorbener Vater William getan hat?«
»Ja, Madam, aber es wird keine Geldwechsler mehr geben, nur noch die Bank of England.«
Jean dachte an ihren verstorbenen Ehemann. Der Schmerz der Erinnerung hatte nach all den Jahren nachgelassen. Ein Hauch von Melancholie war geblieben. Sie hätte gern mit ihm über diese neue Bank gesprochen, seine Meinung dazu gehört. Instinktiv lehnte sie diese Bank ab. Wie die meisten älteren Menschen lehnte sie ab, was sie in der neuen Zeit nicht mehr verstand.
»Dein Vater war ein sehr erfolgreicher und angesehener Mann, John. Wieso ...«
John stöhnte laut und winkte ab: »Bitte, Madam, die Welt verändert sich, aber sie geht nicht unter. Alte Berufe sterben aus und neue Berufe entstehen. Das hat mein Vater, Gott habe ihn selig, genauso gesehen ...«
»Wir sprechen heute Abend beim Essen darüber, John«, sagte Jean Law und verließ das Zimmer. Sie war ratlos. In solchen Augenblicken sehnte sie ihren verstorbenen Ehemann herbei. Sie hätte vieles gegeben, um seinen Rat einholen zu können.
John Law lehnte sich aus dem Bett, nahm die Schüssel unter dem Bett hervor. Er erbrach sich erneut. Als er sich nach einer Weile wieder aufrichten wollte, schlug er den Kopf kräftig am Dachzargen an, der die abgeschrägte Holzdecke stützte. Völlig benommen ließ er sich zu Boden sinken und döste weiter.
Gegen Mittag erschien ein Bote von Mr Arnauld in Begleitung mehrerer Soldaten. Er blieb draußen beim Brunnentrog stehen und rief nach John Law. Als dieser aus dem Haus trat, gab er sich zu erkennen.
»John Law of Lauriston, ich bin hier, um Ihre Spielschuld von gestern Nacht einzuziehen.«
»Und dafür haben Sie vier Soldaten mitgenommen?«, fragte John Law gelassen. Amüsiert musterte er die Bewaffneten.
»Mr Arnauld hat darauf bestanden. Für den Fall, dass Sie nicht in der Lage sein sollten, Ihre Schuld zu begleichen.«
»Mr Arnauld beleidigt mich?«, lächelte Law. »Aber es ehrt mich dennoch, dass Sie glauben, vier Soldaten aufbieten zu müssen, um einen John Law ins Schuldengefängnis abführen zu können.«
Nun lächelte der Bote seinerseits und erwiderte: »John Law ... Sie sind doch John Law, der gestern Nacht Mr Arnauld gestanden hat, dass er außer der Hälfte von Lauriston Castle über kein Vermögen verfügt.«
»O, bin ich das?«, scherzte Law.
Der Bote nickte.
»Und Sie sind sicher, dass ich gestern Abend dabei war, als ich das sagte?«
Die Soldaten wechselten irritierte Blicke. War dieser John Law womöglich noch immer betrunken?
»Ihr seid unbezahlbar«, lachte Law.
Doch der Bote blieb höflich, aber hartnäckig: »Unbezahlt, Herr Law. Nicht unbezahlbar.«
»Nun gut, so wie ich die Situation einschätze, hat Ihr Herr tatsächlich im Sinn, mich in den Schuldenturm zu werfen, wenn ich meine Schuld nicht unverzüglich begleiche.«
»So ist es«, antwortete der Bote ungerührt, »Mr Antoine Arnauld beabsichtigt, demnächst Edinburgh zu verlassen. Er besteht deshalb darauf, die Angelegenheit noch heute zu regeln.«
»Ich werde zahlen«, sagte eine Frauenstimme im Hintergrund. Jean Law trat aus dem Haus und ging auf den Boten zu. »Wie hoch ist die Summe?«
John Law beugte sich zu seiner Mutter hinunter und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Das Blut wich aus ihrem Gesicht. Sie wirkte plötzlich um Jahre gealtert.
Notar Roxburghe hatte sich hinter einem Stapel von Büchern, Zeitungen und Dokumenten verschanzt. Auf dem Boden türmten sich die Papierberge bis auf die Höhe des Fenstersimses. »Immer mehr Papier«, flüsterte Roxburghe mit heiserer Stimme, »wie soll der Mensch diese Flut noch bewältigen? Immer mehr Zeitungen. Wer soll das alles lesen? Und all die Bücher ...«
Roxburghe war in den vergangenen zehn Jahren sehr gealtert. Der Kopf war kahl, die Wangen eingefallen, der ganze Mann nur noch Haut und Knochen. Und er hörte schlecht. Man musste schreien, wenn man sich mit ihm unterhalten wollte. Er hörte nicht mal die Winde, die seinen Gedärmen entwichen und einen fauligen Geruch verströmten. Roxburghe roch gar nichts mehr. Er saß hinter seinem Schreibtisch verschanzt und wollte leben. Jetzt händigte er John Law ein Dokument aus. John unterschrieb und reichte das Dokument an seine Mutter weiter. Sie unterschrieb und reichte das Dokument an Roxburghe zurück. Es folgten weitere Dokumente.
»Ein ganzes Leben hat Ihr Vater William Law gebraucht, um sich ein Anwesen wie Lauristor Castle leisten zu können«, stieß Roxburghe mit heiserer Stimme hervor, »und Sie haben Ihren Anteil in einer einzigen Nacht verloren. Am Spieltisch.«
»Ja, Sir. Ich habe gegen einen Berufsspieler verloren, der das Kartenspiel nach streng mathematischen Regeln betreibt. Er berechnet während des Spiels das Risiko, die Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen ...«
Roxburghe winkte heftig ab. »Trottel«, schimpfte er. »Ich bin alt genug, um kein Blatt mehr vor den Mund nehmen zu müssen, und ich sage Ihnen, Sie sind ein Trottel. Und wenn Sie sich jetzt noch rechtfertigen und Ihre Torheit nicht einsehen wollen, haben Sie nicht einmal etwas daraus gelernt!«
John Law schwieg. Er hatte gespielt und getrunken. Und verloren. Es war nun mal so. Er blickte zu Antoine Arnauld, der die Gutschrift in Empfang nahm.
»Ab jetzt«, sagte Roxburghe und brach ab, um sich ausgiebig zu räuspern, »ab jetzt ist Ihre Mutter, Jean Law, die alleinige Besitzerin von Lauriston Castle. Sie partizipieren nicht mehr an den Einkünften. Sie dürfen den Namen >of Lauriston< weiterhin benutzen. Mehr aber auch nicht Mit dem einen Teil des Erlöses wurde Ihre Spielschuld gegenüber Mr Arnauld beglichen. Den Rest erhielten Sie von Ihrer Mutter in Form einer Gutschrift.« Roxburghe machte eine kurze Pause und musterte John Law nachdenklich. »Geld zu behalten ist wesentlich schwieriger, als es zu verdienen. Sie haben sehr viel Lehrgeld bezahlt und dafür keinen universitären Titel erhalten. Nur Spott und Hohn.«
Jean Law schaute bekümmert zu John, der regungslos dasaß und dem Notar zuhörte. Es schmerzte sie, dass ihr Sohn gescheitert war. Es schmerzte mehr als die Wut über das verlorene Geld.
Antoine Arnauld verbeugte sich knapp vor Madam Law: »Sehen Sie es so, Madam Law. Falls Ihr Sohn etwas aus seinen Fehlern lernt, so wird sich dies bezahlt machen. Es ist immer besser, sein Lehrgeld in jungen Jahren zu entrichten. Dann verliert man weniger, weil man weniger hat.«
Dann holte er aus seinem Umhang ein Buch. Er reichte es John, der es widerwillig entgegennahm. Es trug den Titel »Logik oder Die Kunst des Denkens«.
Antoine Arnauld lächelte: »Mir ist nicht entgangen, dass Sie über bemerkenswerte mathematische Fähigkeiten verfügen. Aber Sie nutzen Sie zu wenig, Mr Law. Es liegt an Ihnen, ob Sie aus dieser Niederlage einen Sieg machen.«
Als der Franzose das Arbeitszimmer des Notars verließ, bemerkte John Law erst, wer der Verfasser des Werkes war, das er in den Händen hielt. Es war Antoine Arnauld. John sank wie getroffen in sich zusammen.
»Vergessen Sie den Stock Ihres Vaters nicht, John Law. Er liegt immer noch in Paris.«
»Ich weiß«, entgegnete John kleinlaut, »der mit dem goldenen Griff ...«
»Es ist die Inschrift, John. Die Inschrift. Non obscura nec ima: Weder unbedeutend noch gering ... Holen Sie diesen Stock, John.«
John sah den Notar an und sah dann wieder auf das Buch. Sein Entschluss stand fest. Er würde noch am selben Tag abreisen. Nicht nach Paris, zu diesem vermaledeiten Spazierstock. Nein, er würde nach London fahren.
Es begann bereits zu dunkeln, als William Law seinem Bruder John auf dem Hof von Lauriston Castle die Kutschentür aufhielt. Mit theatralischer Geste verneigte er sich. »Mr John Law of Lauriston, wir wünschen eine angenehme Fahrt.«
John sah sich ein letztes Mal zu seiner Mutter um. Sie hatte ihren Kopf in ein rot kariertes Tuch gehüllt. Eine kalte Brise wehte über den Platz und wirbelte den Staub auf. Er schämte sich, dass er Madam so viel Leid angetan hatte. Er sah ihr an, dass es sie schmerzte, ihren Sohn an die große Metropole zu verlieren. Er spürte auch, dass Madam trotz allem, was geschehen war, wünschte, er möge in London endlich sein Glück finden, das er hier so schändlich vertan hatte.
London lag gut zehn Tagesreisen von Edinburgh entfernt. Waren die Wege nicht vom Regen aufgeweicht, kam die Kutsche gut voran, ging es über holprige Landstraßen, die die Passagiere stundenlang kräftig durchschüttelten. Eine Tortur vor allem für jemanden, der sich in der Nacht zuvor ungebührliche Mengen Alkohol zugeführt hatte. John Law saß mit einem älteren Herrn, der sich Beaton nannte, in der Kutsche. Beaton reiste in Begleitung seiner jungen Frau und seiner Tochter. Mr Beaton schien ein schweigsamer Mann zu sein, und John war froh drum.
Er hörte noch die Worte, die seine Mutter ihm zum Abschied mit auf den Weg gegeben hatte. »John«, hatte sie gesagt, »viele Menschen haben Talent, aber die wenigsten können ihr Talent nutzen, weil sie zu schwach sind und keine Disziplin haben. John, in einigen Jahren wird es nicht mehr drauf ankommen, wie vielen Frauenzimmern du den Kopf verdreht und wie viele Kartenspiele du gewonnen hast. In einigen Jahren zählt nur noch dein Beruf. Mit deinem Beruf wirst du mehr Zeit verbringen als mit allen Frauenzimmern zusammen. Dein Vater William hat seinen Beruf geliebt. Er hat für seinen Beruf gelebt. Deshalb war er erfolgreich und angesehen und konnte seiner Familie, die er über alles liebte, Lauriston Castle hinterlassen. Gib Acht auf dich, John of Lauriston. Und wenn du Geld in die Hand nimmst, meide den Gin. Und wenn du trinkst, dann fasse kein Geld an.«
Die Worte seiner Mutter bewegten ihn. Gin macht die Leute rührselig und weinerlich. Jetzt erst schien John klar zu werden, was er getan hatte, als er nahezu sein gesamtes Erbe in einer Nacht verspielt hatte. Er hatte es beim Kartenspiel zu einiger Fertigkeit gebracht. Doch er war übermütig geworden und auf das scheinbar freundliche Angebot seiner Mitspieler hereingefallen. Er hatte sein vorübergehendes Spielglück mit Gin gefeiert. John nahm es ohne Groll und Ärger zur Kenntnis. Er begriff, dass Talent ohne Härte und Disziplin tatsächlich wertlos war.
John wollte über all das nachdenken. Er stellte sich schlafend, um in keine Gespräche verwickelt zu werden, doch das junge Mädchen in der Kutsche räusperte sich immerzu, ließ ihren Fächer sprechen und sprudelte bei jeder sich bietenden Gelegenheit munter drauflos. Aber John hatte kein Interesse. Auch nicht an der Mutter, die nun ebenfalls ihren Fächer sprechen ließ, dezent, aber unmissverständlich. Mutter und Tochter begannen zu wetteifern. Aber John schloss die Augen. Er war froh, Schottland zu verlassen. Er war froh, Edinburgh und seine Bordelle zu verlassen.
Ein Lächeln huschte über seine Lippen, als er sich bewusst wurde, dass er all seine Schwächen und Laster mit auf die Reise nahm, wenn er nicht die Härte und Disziplin aufbrachte, seinen neuen Einsichten Taten folgen zu lassen.
Die Reisenden übernachteten in einfachen Herbergen. Wenn alle zu Bett gegangen waren, begann John Law zu lesen. »Logik oder Die Kunst des Denkens« von Antoine Arnauld. Das Buch beschäftigte sich mit der Theorie des Würfelspiels. Mit wissenschaftlicher Genauigkeit wurden anhand des Würfelspiels Wahrscheinlichkeitstheorien erläutert. Warum war es mit zwei Würfeln wahrscheinlicher, eine Neun zu würfeln als eine Zehn? Die Wahrscheinlichkeit, mit zwei Würfeln eine Neun zu würfeln, lag bei eins zu neun. Die Wahrscheinlichkeit, mit zwei Würfeln eine Zehn zu würfeln, lag jedoch bei eins zu zwölf. Antoine Arnauld berief sich auf Gelehrte aus dem sechzehnten Jahrhundert, auf Gerolamo Cardano, auf Galileo Galilei, auf den Mathematiker Chevalier de Mere und die Bernoullis. Er las über die Gesetze der »großen Zahl«, die sowohl für die Risikoberechnung der im Entstehen begriffenen Versicherungen und Staatslotterien von Bedeutung waren als auch für die Karten- und Glücksspieler. John Law las und las, und er spürte die Bedeutung der Worte und die Tragweite der Theorien, die er in sich aufsog wie edlen Wein. Die mathematischen Modelle und Formeln entfachten in ihm eine Leidenschaft, die er bisher nur im Schoß der Frauen empfunden hatte. Er bewunderte die Gelehrten, die nach neuen Formeln suchten, mit denen man die reale Welt erklären und Probleme in dieser Welt lösen konnte. Sie suchten nach Lösungen, die unwiderlegbar und nachprüfbar waren. Alle Menschen kannten Zahlen, aber nur die wenigsten verstanden es, diese Zahlen zu Formeln zu vereinen, zu Algorithmen, die eine Risikoberechnung möglich machten. Nur wenige waren imstande, Zahlen zu nutzen, um mathematische Modelle durchzurechnen, die den Fluss von Geld und Waren steuerten und über Aufstieg und Fall von Nationen entschieden.
Für John Law wurde die Reise nach London so zu einer Reise in eine neue Welt. Und dass er dabei so schrecklich durchgeschüttelt wurde, gab ihm das Gefühl, ein unerschrockener Seefahrer zu sein, der orkanartigen Stürmen trotzte und wochenlang auf dem Meer herumtrieb, um neue Horizonte zu entdecken. Ein Kolumbus der Mathematik, ein Cabral der Finanzwirtschaft.
In Birmingham war für Mr Beaton und seine kleine Familie die Reise beendet. Stattdessen bestieg eine Dame die Kutsche, die etwa fünfunddreißig Jahre sein mochte. Sie hieß Mary Asteil und schrieb für eine Londoner Zeitung, den »Greenwich Hospital News Letter«. Mary Asteil hatte die Angewohnheit, John Law in Gespräche zu verwickeln, immer wenn dieser einzuschlafen drohte. So erfuhr John immerhin, dass sich der »Greenwich Hospital News Letter« rühmte, als erste Zeitung in Europa überhaupt Briefe von Lesern zu veröffentlichen und außerdem Anzeigen, in denen Händler und Kaufleute für ihre Produkte warben.
John zeigte sich beeindruckt. Doch kaum schloss er wieder die Augen, ging es weiter.
»London ist die Stadt der Beaus. Sie kommen und gehen, und wir fragen uns, woher diese Menschen ihr Geld haben.« Die Frau sah ihn an. Mary Astell war attraktiv. Ihre quirlige und unverfrorene Art machte sie durchaus noch etwas begehrenswerter, aber sie redete wie ein Wasserfall. Und beim Sprechen vermied sie nahezu jede Lippenbewegung.
Was so vornehm klang, rührte nur daher, dass diese Londoner in mückengeplagten Sumpfgebieten lebten, dachte John. Würden sie den Mund richtig aufmachen, hätten sie den Mund voller Fliegen.
»Der Beau ist ein Ausbund an Eitelkeit, bestehend aus Ignoranz, Stolz.Torheit und Ausschweifung: ein dummer, ärgerlicher Kerl, zu drei Viertel Blender, zu einem Viertel ein Möchtegernhektor. Eine Art wandelndes Tuchgeschäft, das heute den einen und morgen den anderen Stoff zur Schau stellt und dessen Wert sich allein nach dem Preis seiner Anzüge und dem Können seines Schneiders bemisst. Ein Spross des Adels, der die Laster seiner Vorfahren geerbt und der Nachwelt aller Wahrscheinlichkeit nach nichts weiter hinterlässt als Niedertracht und Siechtum.«
Mary Astell spitzte süffisant den Mund und fixierte John Laws voluminöse schwarze Allongeperücke, die sich über dem Scheitel türmte und links und rechts bis auf die Schultern hinunterfiel. Die seidene Halsbinde war modisch geknöpft. Den französischen Mantel, einen Justaucorps aus hellbraunem Stoff mit feinsten Rosettenverzierungen, trug er offen. Die Arme ruhten auf den Oberschenkeln. So kamen die breit geknöpften Jackenaufschläge noch besser zur Geltung. Als Mary Astells Blick auf Johns Degen fiel, murmelte John unvermittelt: »Und wer ist der schönste Beau in London?«
Mary Astell strahlte übers ganze Gesicht. Der Schotte hatte angebissen. Sie war sich nicht sicher, ob der Schotte überhaupt bemerkt hatte, dass ihr Spott ihm persönlich galt.
»Edward Beau Wilson«, sagte Mary Astell. »In den Londoner Salons gilt er als die größte Attraktion. Er kam aus dem Nichts. Niemand weiß, wovon er lebt. Er verfügt über eine prächtige Equipage, wie sie nur die reichsten Edelmänner besitzen: Haus, Mobiliar, Kutschen und Reitpferde, alles vom Feinsten. Er besitzt einen Sechsspänner und unterhält mehr Diener ah mancher Verwandter unseres Königs. Jeder Bankier in der Stadt leiht ihm Geld. Sechstausend Pfund soll er sich seinen jährlichen Lebensunterhalt kosten lassen. Stellen Sie sich das einmal vor. Nicht einmal Betty Villiers, die Lieblingsmätresse Williams III., erhält für ihre Dienste so viel Geld. Woher hat Edward Beau Wilson also sein Geld?«
John, der nicht mehr länger Müdigkeit vorschützen konnte, öffnete ein Auge: »Spielt er Karten?«
»Ja!«, entfuhr es Mary Astell. Sie war hocherfreut, dass ihr Gegenüber langsam in die Konversation einstieg. »Er spielt Karten, aber er verliert immer.«
Jetzt schlug John auch das zweite Auge auf. Er war hellwach: »Ich spiele auch gern Karten. Ich wäre Ihnen zutiefst verbunden, wenn Sie mich mit Mr Edward Wilson bekannt machen könnten. Ich gewinne nämlich - meistens.«
Mary Astell lachte laut auf: »Wollen Sie sich denn nicht vorstellen, Sir?«
»Haben Sie das nicht schon getan, Madam?«, fragte John. »Gestatten: John Law of Lauriston.«
»Beau Law«, lächelte Mary Astell, »Jessamy wäre auch passend, aber wieso sollte ich Sie mit Edward Beau Wilson bekannt machen? Wer sind Sie?«
»Jessamy, sagten Sie nicht eben Jessamy?«
Mary Astell schmunzelte und nahm amüsiert ihren Fächer hervor: »Jetzt bin ich aber gespannt, Jessamy ...«
»Meine große Leidenschaft gilt - dem Kartenspiel. Und es ist keine Unbescheidenheit, wenn ich sage, dass ich der beste Kartenspieler von Edinburgh bin.«
»Keine Unbescheidenheit?«
»Nein, eine Tatsache. Aber nur, wenn ich nüchtern bin.« Mary Astell fächerte amüsiert ihre Botschaften zu John Law hinüber. Ihm schien, als spräche man in London auch in der Fächersprache mit anderem Akzent. Mittlerweile fand er ihre Angewohnheit, beim Sprechen die Lippen kaum zu bewegen, gar nicht mehr hochnäsig und lustfeindlich, sondern geradezu erotisch. Ja, John Law hatte seinen Katzenjammer von Edinburgh überwunden und war bereit zu neuen Taten.
Etwa zur selben Zeit, als John Law sich London näherte, erreichte ein Reiter Lauriston Castle. Er erkundigte sich nach einem Mann namens John Law. Er sagte, er sei ihm noch etwas schuldig. Jean Law anerbot sich, die Schulden ihres Sohnes zu übernehmen. Doch der Fremde sagte, dass nicht John Law, sondern er, der Fremde, eine Schuld zu begleichen habe. Jean Law schien erstaunt darüber. Der Fremde sagte weiter, dass er diese Schuld nur in Anwesenheit von John Law begleichen könne. Als er hörte, dass John Law mit einer Kutsche nach London unterwegs war, gab er seinem Pferd die Sporen und ritt weiter.
»Der Fremde hatte ein verstümmeltes linkes Ohr«, erzählte Jean Law später ihrem Sohn William, »und eine Narbe im Gesicht. Hat er dir jemals von einem Freund erzählt, der nur ein Ohr hat?«
William hatte nur gelächelt.